Hase, Koyote und 7.000 Eichen
Am Anfang von Beuysʼ künstlerischem Schaffen steht eine Legende.
Filz und Fett sind aus den Arbeiten von Joseph Beuys nicht wegzudenken. Sie sind für ihn Wärmespeicher und Isolatoren. Um diese beiden Materialien rankt sich auch eine Legende, die Kunsthistoriker heute für eine Erfindung halten. Joseph Beuys berichtet, dass er nach einem Flugzeugabsturz im Zweiten Weltkrieg lebensgefährlich verletzt und von Krimtataren mit Filz- und Fettumhüllungen geheilt worden sei. Dass er damit einen individuellen Mythos geschaffen hat, mag man als Teil seiner Kunst verstehen.
Hiermit trete ich aus der Kunst aus
Beuys hat den Begriff der „Sozialen Plastik“ geprägt. Die Soziale Plastik resultiert wiederum aus dem Verständnis des erweiterten Kunstbegriffs. Dieser beschränkt die Kunst nicht auf ein abgeschlossenes Werk, sondern schließt das kreative Denken und Handeln des Menschen ein. Ein Kunstwerk gilt im Sinne Beuysʼ dann als Soziale Plastik, wenn damit versucht wird, auf gesellschaftliche Zustände einzuwirken und diese zu verändern. Ideen, Aktionen und Prozesse können dabei ebenso Gegenstand eines Kunstwerks sein wie reale Dinge.
„Hiermit trete ich aus der Kunst aus“, hat es Beuys einmal formuliert und die menschliche Kreativität „zur einzig revolutionären Kraft“ erklärt.
24 Schlitten schwärmen aus
In seiner 1969 entstandenen Installation „Das Rudel“ lässt er eine Gruppe von Holzschlitten, die aus der DDR stammen – jeder von ihnen mit einer kleinen Menge Fett, einer Taschenlampe und einer zusammengerollten Filzdecke bepackt –, aus der Heckklappe eines alten grauen VW-Busses ausschwärmen. Nahrung, Orientierung und Wärme, dies sei das, was man im Äußersten braucht, um zu überleben, erklärt Beuys seine Arbeit.
Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt
Im November 1965 wird Joseph Beuys mit einer Aktion in der Düsseldorfer Galerie Schmela schlagartig bekannt. Am Eröffnungstag seiner Ausstellung „… irgendein Strang …“ versperrt er die Tür von innen, so dass die Besucherinnen und Besucher der Galerie den Vorgang nur durch die Fenster beobachten können. Seinen Kopf vollständig mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, beginnt er, dem toten Hasen die Bilder zu erklären: Mit dem Tier auf dem Arm und offenbar im Zwiegespräch mit ihm geht er durch die Ausstellung, von Objekt zu Objekt. Die Aktion gilt als Höhepunkt von Joseph Beuys’ Entwicklung eines erweiterten Kunstbegriffs, die sich bereits in seinen Zeichnungen der 1950er Jahre andeutet.
I love America and America loves me
Der Galerist René Block kann Beuys 1974 für die Eröffnung seiner Galerie im New Yorker Stadtteil Soho gewinnen. Seine Aktion, die er „I love America and America loves me“ nennt, beginnt bereits nach der Landung auf dem Flughafen John F. Kennedy: Beuys lässt sich in Filz einwickeln und in einem Krankenwagen zur Galerie bringen. In einem separaten Raum schließt er sich zusammen mit einem Kojoten namens „Little John“ für mehrere Tage ein.
Kojoten nehmen in der Mythologie vieler American Natives eine wichtige Rolle ein: Sie werden verehrt, aber wegen ihrer Unberechenbarkeit auch gefürchtet. Als Lager dienen Beuys Ausgaben des „Wall Street Journal“, während für den Kojoten Stroh vorgesehen ist. Zu Beginn ist der Kojote aggressiv und verunsichert, doch mit der Zeit fasst er mehr und mehr Vertrauen. Schließlich legt sich Beuys auf das Strohlager und der Kojote schläft auf den Zeitungen. Zum Abschluss der Aktion lässt sich Beuys wieder in Filz einwickeln und im Krankenwagen zum Flughafen bringen.
Warten auf die Straßenbahn
Wenn der Schüler Joseph Beuys Verwandte im Nachbarort besuchen will, wartet er an einem rätselhaften Monument, einer aus alten Kanonen montierten „Cupido-Säule“, auf die Straßenbahn. Die Säule wurde 1654 an einer der wichtigsten Ausfallstraßen von Kleve als Zeichen des wiedererlangten Friedens nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges errichtet. Beuys ist von dem archaisch wirkenden eisernen Gebilde fasziniert und verbindet sie gedanklich mit den eisernen Straßenbahnschienen. Blitzartig, so Beuys später, habe er die Aussagekraft des Materials und die Bedeutung von Raum und Zeit erkannt. Dieser magische Ort sei für ihn zu einem künstlerischen Schlüsselerlebnis geworden. Für die Biennale in Venedig 1976 lässt Beuys die Klever „Cupido-Säule“ abgießen und an ihrer Stelle eine Straßenbahnschiene im Boden versenken.
Mit japanischem Whisky für deutsche Eichen
Unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ startet Joseph Beuys 1982 auf der documenta 7 in Kassel sein großes Landschaftskunstwerk. Im Verlauf mehrerer Jahre werden 7.000 Eichen gemeinsam mit jeweils einem Basaltstein an unterschiedlichen Standorten in Kassel gepflanzt. Um Geld für diese aufwändige Soziale Plastik zu sammeln, macht Joseph Beuys unter anderem Werbung für „Super“, einen japanischen Whisky der Firma Nikka. Die letzte Eiche wird 1987 – eineinhalb Jahre nach Beuysʼ Tod – von seinem Sohn Wenzel in Kassel gepflanzt.