Die Pioniere der Moderne
Wie viele deutsche Städte liegt Kassel nach dem Zweiten Weltkrieg und der Barbarei des NS-Regimes in Trümmern. Über 70 Prozent der Innenstadt sind zerstört. Auch das wichtigste Museum der Stadt, das Fridericianum, ist eine Ruine.
All diesen Widrigkeiten zum Trotz nutzt der Künstler, Architekt, Designer und Akademieprofessor Arnold Bode die 1955 in Kassel stattfindende Bundesgartenschau, um parallel dazu in den Überresten des Fridericianums eine internationale Ausstellung zeitgenössischer Kunst zu organisieren: die Documenta.
Gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann stellt er fast 700 Werke zusammen. Schwerpunkt der ersten Documenta sind Arbeiten derjenigen Künstler, die während der Zeit des Nationalsozialismus als „entartete Kunst“ in Deutschland verfemt waren. Allerdings verhinderte Haftmann, der neuen Recherchen zufolge ein überzeugter Nazi und Kriegsverbrecher war, dass jüdische Künstlerinnen und Künstler ausgestellt wurden.
Daher steht die abstrakte Kunst, insbesondere die abstrakte Malerei der 1920er und 1930er Jahre, im Mittelpunkt der Ausstellung. Insgesamt 148 Künstlerinnen und Künstler nehmen an der ersten Documenta teil, darunter: Jean Arp, Max Ernst, Otto Dix, Alexander Calder, Lyonel Feininger, Max Bill, Max Beckmann, Fernand Léger, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Piet Mondrian, Paula Modersohn-Becker, Franz Marc, August Macke und Henry Moore.
Das Museum Fridericianum am Friedrichsplatz ist zu diesem Zeitpunkt nur provisorisch instandgesetzt – mit nackten Betonböden, unverputzten Ziegelmauern und Wänden aus Leichtbauplatten. Arnold Bode improvisiert: Mit weißen und schwarzen Kunststofffolien werden Fenster abgedeckt und unschöne Mauerpartien kaschiert.
Mehr noch: Die unverputzten, weiß gekalkten Wände sind eine spektakuläre Kulisse für seine Inszenierung. Noch Jahre später wird man von dieser Ausstellungsarchitektur sprechen, die teilweise der puren Not entspringt.
Das Konzept wird als glanzvolle Inszenierung der Kunst gefeiert. Bode gelingt es, in 100 Tagen mehr als 130.000 Besucher nach Kassel zu locken. Die Ausstellung ist damit unerwartet erfolgreich.
Die Schau wird von der Presse als „Ausnahmeereignis“ gefeiert – zu einer Zeit, in der viele Museen noch immer in Trümmern liegen und Sammlungen aufgrund der Entfernung von Kunstwerken, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ bestimmt wurden, erst mühsam wieder aufgebaut werden müssen.
Seitdem hat sich die Documenta in zunächst vier‐, später fünfjährigem Rhythmus zur weltweit bedeutendsten Ausstellungsreihe für Gegenwartskunst entwickelt.