1970

Die Zeit ist reif

Feministische Avantgarde: vom Herd auf die Straße ins Atelier

In New York verbrennen Feministinnen in der Öffentlichkeit ihre BHs, in Westdeutschland gehen Aktivistinnen mit Parolen wie „Mein Bauch gehört mir!“ gegen den Paragrafen 218 auf die Straße.

Frauen haben es satt, von Männern bevormundet zu werden, wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und kämpfen für Gleichberechtigung. Diese steht zwar seit 1949 dank der sozialdemokratischen Abgeordneten Elisabeth Selbert als Artikel 3 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. 

Doch der Alltag sieht anders aus: Der Platz der Frau scheint auch in den 1970er Jahren noch immer hinterm Herd zu sein. Und wenn eine Frau dieselbe Arbeit verrichtet wie ein Mann, bekommt sie dafür oft deutlich weniger Geld.

Valide Export, "Aus der Mappe der Hundigkeit", 1968
Foto: Ben Westoby, VG Bild-Kunst

Befeuert von den gesellschaftlichen Ereignissen in Westdeutschland und den USA erlebt die feministische Avantgarde in den 1970er Jahren starken Aufwind. Zwar gab es bereits vor den späten 1960er Jahren feministische Kunst, doch den Künstlerinnen der neuen Generation geht es explizit darum, eine eigene Kunstgeschichte zu schreiben, die bis dahin noch immer eine höchst männliche Angelegenheit ist. Immer wieder tauchen Frauen als Muse oder als „Frau von …“ auf, obwohl sie nicht selten selbst künstlerisch tätig sind – mutig, unkonventionell und meist auch sehr erfolgreich.

“A woman needs a man like a fish needs a bicycle.”
Irina Dunn
Renate Bertlmann, „Zärtliche Berührung“, 1976 / Ulrike Rosenbach, "Aufwärts zum Mount Everest", 1983
© Renate Bertlmann / Bildrecht, courtesy Richard Saltoun Gallery London, Galerie Steinek Wien / VG Bild-Kunst

Renate Bertlmann, „Zärtliche Berührung“, 1976 / Ulrike Rosenbach, "Aufwärts zum Mount Everest", 1983
© Renate Bertlmann / Bildrecht, courtesy Richard Saltoun Gallery London, Galerie Steinek Wien / VG Bild-Kunst

Westdeutsche und österreichische Künstlerinnen wie Valie Export, Birgit Jürgenssen, Renate Bertlmann, Ulrike Rosenbach, Annegret Soltau oder Karin Mack befassen sich mit stereotypen Weiblichkeitsbildern, mit Körperlichkeit, Sexualität und sexueller Gewalt. Sie stellen Machtverhältnisse und Hierarchien in Frage. Dabei nutzen die Künstlerinnen oft ganz bewusst neue, historisch unbelastete Medien wie Fotografie, Film und Video oder wählen die Performance als künstlerisches Ausdrucksmittel. 

Ulrike Rosenbach, "Frau – Frau", 1978 (Ausschnitt)
Quelle: mdr Archiv © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Mit Super 8 gegen Ideologien

Auch Künstlerinnen in der DDR wie beispielsweise Gabriele Stötzer lehnen sich gegen das Patriarchat auf und erforschen in ihren Werken körperliche wie kollektive Zustände. Während ihres Studiums unterzeichnet Stötzer ein Protestschreiben gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann und wird für ein Jahr inhaftiert. Anschließend arbeitet sie – stets unter den Augen der Stasi – als rebellische Künstlerin und Autorin.

Gabriele Stötzer, "Austreibung aus dem Paradies" (Ausschnitt), 1984
Super-8 auf VHS, digitalisiert, 22 min, Idee und Videografie: Gabriele Stötzer, Ausführung: Monique Förster, Claudia Räther, © Gabriele Stötzer, courtesy LOOCK, Berlin

In ihren bildnerischen Arbeiten, ihren Fotografien und vor allem auch in ihren Super-8-Filmen setzt Stötzer sich radikal und subversiv mit ideologischen Tabus und kleinbürgerlichen Zuständen auseinander, mit Begrenzungen und Einschränkungen und thematisiert immer wieder ihre Rolle als Frau in der Gesellschaft. 1984 entsteht auf ihr Betreiben eine der wenigen künstlerisch arbeitenden Frauengruppen der DDR: Exterra XX. 

Verena Kyselka: Exterra XX, Kunsthof Lietzen, Juni 1989
Foto: Claudia Bogenhard, © Privatarchiv

Rebellisch, wild und nicht erwünscht

Cornelia Schleime, die heute zu den bekanntesten deutschen Malerinnen ihrer Generation zählt, arbeitet ebenfalls seit den frühen 1980er Jahren mit Super-8-Filmen. In ihrem experimentellen Film „Unter weißen Tüchern“ (1983) sieht man zum Beispiel eine Frau, festgebunden an einer auf- und zugehenden Tür, nur die Augen können sich bewegen – unmissverständliches Sinnbild für Unfreiheit und Unterdrückung. In Selbstinszenierungen zeigt sie sich häufig nackt und gefesselt: als Protest gegen die ihr vom Staat genommene Freiheit.

Cornelia Schleime, "Unter weißen Tüchern", 1983

Schleime erhält 1981 Ausstellungsverbot, siedelt 1984 von Ost- nach Westberlin über und musste ihr bis dahin geschaffenes Werk weitgehend zurücklassen.