Die noch junge Berliner Republik sucht ihre Identität
Steffi Graf gewinnt zum sechsten Mal Wimbledon, die niederländische Band Gompie sorgt mit „Alice, Who The X is Alice?“ für einen Sommerhit und Helmut Kohl verspricht „blühende Landschaften“.
Dies ist die zuversichtliche Metapher, mit der nach der Wiedervereinigung die Zukunft der ostdeutschen Bundesländer beschrieben wird. Mit dem umfangreichen Programm „Aufbau Ost“ soll nicht nur die Wirtschaft angekurbelt, sondern auch die kulturelle Infrastruktur wiederhergestellt werden.
Im Osten spricht man zur selben Zeit eher von „beleuchteten Wiesen“ und meint damit die vielerorts eilig geplanten Gewerbegebiete, für die Straßen gebaut und Laternen installiert werden, bevor man überhaupt Käufer für die Gewerbeflächen gefunden hat. Durch das Aufbauprogramm werden Großprojekte wie die Vereinigung der Staatlichen Museen zu Berlin und die Restaurierung der Berliner Museumsinsel realisiert. Aber auch drei große Kunstwerke von symbolischer Kraft – sie sollen der noch jungen Republik eine gesamtdeutsche Identität geben.
Aber auch drei große Kunstwerke von symbolischer Kraft – sie sollen der noch jungen Republik ein gesamtdeutsche Identität geben.
Christo und Jeanne-Claude hegen bereits mehr als zwanzig Jahre den Plan, den Reichstag in Berlin zu verpacken. „Wrapped Reichstag“ nennen sie das Projekt.
Nach vielen Widerständen, Diskussionen und Abstimmungen ist es im Sommer 1995 endlich so weit: 100.000 Quadratmeter Stoff werden von 90 professionellen Kletterern an der Fassade des Gebäudes heruntergelassen, so dass der Reichstag zwar verhüllt ist, seine Konturen aber doch gut sichtbar sind.
Denn das ist das Prinzip des Künstlerpaares: Sie verhüllen, um sichtbar zu machen. Eine starke Fürsprecherin haben die beiden in der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Sie ist davon überzeugt, dass gerade die Verhüllung die ambivalente Geschichte des Gebäudes erst sichtbar macht.
Im Westen des Bezirks Mitte, südlich des Brandenburger Tores befindet sich das Holocaust-Mahnmal – ein Entwurf des New Yorker Architekten Peter Eisenman – anfangs in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Bildhauer Richard Serra.
Das Areal gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu dem Gebiet der sogenannten Ministergärten. Hier stand die Dienstvilla von Joseph Goebbels. Drei Meter unter der Erde findet man bei den Bauvorbereitungen für das Mahnmal den Bunker von Goebbels, der als Kommandostand diente. Nach den Plänen von Eisenman wird der Schutzraum des Propagandaministers in das Stelenfeld einbezogen. Zu DDR-Zeiten verliefen hier das unbetretbare Sperrgebiet und die Mauer.
Ein Feld von 2700 Stelen erinnert heute an die fast sechs Millionen Juden, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Europa ermordet wurden. Eingeweiht wurde das Mahnmal im Mai 2005. Eisenman nennt seine Arbeit „place of no meaning“ – einen Ort ohne bestimmte Bedeutung. Durch die kaum merkliche Neigung der Stelen scheint der Boden zu schwanken. Es ist „Zone der Instabilität“, die frei von Symbolen versucht, eine neue Form der Erinnerung für das unermessliche Ausmaß des Holocaust zu schaffen.
Durch die kaum merkliche Neigung der Stelen scheint der Boden zu schwanken. Es ist „Zone der Instabilität“, die frei von Symbolen versucht, eine neue Form der Erinnerung für das unermessliche Ausmaß des Holocaust zu schaffen.
Doch offenbar ist nicht allen Besucherinnen und Besuchern die Bedeutung dieses Ortes klar. 2017 startet der Autor und Satiriker Shahak Shapira deshalb die Aktion „Yolocaust“. Das Wort ist eine Verbindung aus dem Hashtag YOLO für „You Only Live Once“ und Holocaust. Auf der gleichnamigen Website versammelte er zwölf Schnappschüsse von Menschen, die respektlos auf dem Mahnmal herumspringen, dort jonglieren oder Yoga machen und ihre Selfies auf Instagram oder Facebook posten.
Er hat diese Bilder mit historischen Fotos hinterlegt. Bewegte man die Maus über ein Bild, springen zum Beispiel die zwei jungen Männer nicht mehr von einer Stele auf die andere, sondern über nackte Leichen in einem Konzentrationslager. Shapira will mit diesem Projekt eine Debatte anstoßen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen weltweit haben seine Website inzwischen besucht. Den Menschen auf den Schnappschüssen hat er angeboten, ihr Bild sofort von der Seite zu nehmen – sie mussten nur in einer Mail an undouche.me@yolocaust.de darum bitten. „Douche“ ist Englisch für Trottel. Inzwischen sind keine Fotos mehr auf yolocaust.de.
Der Bevölkerung
Im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes befindet sich ein großes Beet mit wild durcheinander wachsenden Grünpflanzen. Es trägt die Inschrift „Der Bevölkerung“ und stammt von dem Konzeptkünstler Hans Haacke. Abgeordnete des Bundestages haben für dieses Beet Erde aus ihren Bundesländern beigesteuert. Als das Kunstwerk 2000 eingeweiht wird, löst es eine heftige Debatte aus.
Schließlich steht auf dem Reichstagsgebäude „Dem deutschen Volke“. Hans Haacke habe mit seiner Inschrift möglicherweise sogar gegen die Verfassung verstoßen. Dabei will Haacke damit genau auf einen feinen Unterschied zwischen „Volk“ und „Bevölkerung“ hinweisen: „Das, was im Parlament entschieden wird, betrifft nicht nur Leute, die seit Generationen deutschstämmig sind, sondern alle, die auf dem deutschen Staatsgebiet leben. Das ist die Bevölkerung.“